Bodo Kirchhoff - Widerfahrnis

Die Geschichte selbst könnte man in zwei, drei Sätzen zusammenfassen: nicht mehr junger Mann trifft nicht mehr junge Frau, beide steigen ins Auto und fahren ins Blaue. 
Nach und nach hält die Realität Einzug und die beiden müssen zeigen, wer sie wirklich sind.
Ok - das ist wirklich sehr sehr verkürzt ☺️.

Es beginnt damit, dass Reither, eine Verleger im Ruhestand, am Abend Geräusche vor seiner Tür vernimmt, die nach auf einen Menschen schließen lassen, der vor der Tür steht und Mut sammelt, um anzuklopfen.
Dieser Verdacht erhärtet sich, vor der Tür steht Leonie Palm, die einen Gesprächstermin mit ihm vereinbaren möchte - für einen Lesekreis, wie sie sagt. Das Gespräch erweitert sich schnell auf andere Bereiche, schließlich Reither bittet 'die Palm' auf eine Zigarette herein. ...wie sagt der Amerikaner so schön: and so it begins: 

Aus der Zigarette wird ein Glas Wein, ein Espresso, beide öffnen sich, tauschen Lebensgeschichten aus und, als die Rede auf ihr Auto kommt, sagt Leonie, wie im Nebenbei: 'Ach, ich dachte, man könnte eine kleine Probefahrt machen.'

Dieser kleine Satz wird zu einem Ausflug, noch in der Nacht starten Reither und Leonie zu einer Fahrt ins Ungewisse, ohne festes Ziel, einfach darauf los.
Wir sind dabei, wie sich das Ziel immer weiter Richtung Süden verschiebt, wir hören (oder lesen) das Buch mit, dass sie sich gegenseitig vorlesen, wir erleben, wie sich die beiden näher kommen, die zweite Nacht, die sie im Auto verbringen, 

zwei also, die Kopf an Kopf halb saßen, halb lagen, die Sterne im Blick, das Zuviele am Himmel, wie eine stille Entsprechung zu den Dingen im Wagen.

Schließlich landen sie in Catania, und während Reither feststellt, dass er 'die Frau kaum kennt aber schon nicht mehr verlieren will' treffen sie auf ein bettelndes Mädchen - und mit ihm auf die Realität.
Im Umgang mit dem Kind werden Ansichten und Werte deutlich, die gefunden Nähe muss auf einmal den Anforderungen eines dritten und Einflüssen anderer standhalten - eine Bewährungsprobe.

Ich war und bin hingerissen von der Sprache, in der Kirchhoff diese Begegnung schildert, wie zart, wie vorsichtig sich die ersten Fäden zwischen den beiden spinnen, wie leise sie sich annähern, eben keine stürmisch jungen Liebenden, sondern Menschen mit Vergangenheiten, mit Gepäck - und doch spürt man auch hier das Strahlende, Freudige, Einzigartige einer beginnenden Liebe.

Die Begegnung mit dem Kind allerdings und all das was sich draus ergibt war mir zu konstruiert - manches möchte ich auch gerne als unglaubwürdig bezeichnen - das belastet die Handlung - ich bekenne: ich hätte das nicht gebraucht und es schmälert leider den Genuss doch etwas.

Also etwas zweigeteilt, mein Urteil, wobei ich den Road-Movie-Teil auf jeden Fall sehr sehr lesenswert finde. Auch weil ich das schon einmal selbst erlebt habe, so ein Abenteuer geboren aus einem dahingesagten Satz - und das wieder ins Gedächtnis kam - einschließlich der Nacht im Auto 😊  und das wirklich ganz wunderschön eingefangen ist.

Hier noch ein paar Zeilen aus dem Buch:

... - nein, Erinnerungen sind keine Abschnitte in Handbüchern, es sind auch nicht nur Einflüsterungen. Viel eher sind es Splitter, auf die man barfuß im Dunkeln tritt, weil man vergessen hat, dass etwas zu Bruch gegangen ist, sich an den Wein erinnert, nicht an das Glas, das zu Boden fiel.

Er rauchte jetzt, den Kopf noch am Fenster, er sah auf die Berge, die Spalten und Schluchten im Fels, aber er sah auch zur Fahrerin, wie sie alles im Auge hatte, wohl auch den Beifahrer; er ließ den Rauch verströmen, es gab rein nichts, das noch ein Wort verlangt hätte.

... - fein nicht ganz das treffende Wort, nur, was bleibt noch an Worten, an Sprache, wenn man bei jedem Luftholen meint, es würde einem mitten durchs Herz ein Faden gezogen.